Do, 06.08.2015 , 09:13 Uhr

"Bearbeitungsstraße" für Flüchtlinge - Asylbewerber und Bürokratie

Wer als Flüchtling von der Polizei aus einem Zug oder Auto geholt wird, muss erst einmal durch die „Bearbeitungsstraße“. Er macht Bekanntschaft mit der deutschen Gründlichkeit. Mit einer „Anlaufbescheinigung“ darf er zur Erstaufnahmestelle weiterfahren.

 

Die Polizisten warten schon. Als der Eurocity 88 Verona-München im Rosenheimer Bahnhof einfährt, stehen etwa zwei Dutzend Beamte an Bahnsteig und Unterführung parat. Etliche von ihnen steigen sofort in die Waggons und holen überwiegend dunkelhäutige Flüchtlinge aus den Abteilen. Innerhalb von 20 Minuten ist die Treppe zur Unterführung voll mit erschöpften Kindern, Frauen und Männern. Sie sitzen auf den Stufen und wissen nicht, was nun mit ihnen passieren wird. Einen Tag später steht fest, dass es sich bei der Aktion Mitte der Woche um den deutschlandweit bisher größten „Aufgriff“ – so der Polizeijargon – von Flüchtlingen handelt.

 

147 Asylbewerber werden bei sengender Hitze aus nur einem Zug geholt, darunter zahlreiche Schwangere. Allein 119 von ihnen stammen aus Eritrea, die anderen sind Syrer, Äthiopier, Nigerianer oder Sudanesen. Balkanflüchtlinge mit geringer Chance auf Anerkennung, für die Bayern nun eigene Aufnahmezentren mit dem Ziel der raschen Abschiebung einrichtet, sind nicht darunter. Sie kommen über andere Routen nach Deutschland. Im Juli erreichten insgesamt 79 000 Asylbewerber Deutschland – doppelt so viele wie im gesamten Jahr 2005 und so viele wie nie zuvor in einem Monat.

 

Eine junge Mutter stillt auf der Bahnhofstreppe sitzend inmitten all der Leute seelenruhig ihr Baby, ein kleines Mädchen aus Afrika hält eine Puppe im Arm, ein Junge lässt sein Spielzeugauto Runden auf dem Beton drehen. Kaum ein Kind weint, wie überhaupt die Ruhe und Unaufgeregtheit beeindruckt, mit der alle die schwierige Situation meistern. Weder von den Beamten noch seitens der Asylbewerber fällt auch nur ein lautes Wort.

 

Zwei hochschwangeren Frauen bringen Beamte bereitwillig Stühle, damit sie die Wartezeit am Bahnsteig wenigstens etwas bequemer zubringen können. Dennoch: Für die Polizei sind die Flüchtlinge in erster Linie illegal eingereiste Ausländer. Sie müssen behördlich registriert werden. „Sie verfügten nicht über die erforderlichen Papiere, die für die Einreise oder den Aufenthalt in der Bundesrepublik erforderlich gewesen wären“, sagt der Sprecher der Bundespolizei in Rosenheim, Rainer Scharf. Also machen die nach einer oft lebensgefährlichen Flucht hierzulande ankommenden Menschen erst einmal Bekanntschaft mit der sprichwörtlichen deutschen Gründlichkeit.

 

Schon am Bahnhof werden die Asylbewerber nach verbotenen Gegenständen abgetastet. Jeder bekommt ein Bändchen mit einer Nummer ums Handgelenk, eine Klarsichtfolie mit den vorübergehend eingezogenen Gegenständen – Halskettchen und akribisch abgezähltes Bargeld – erhält dieselbe Nummer. Dann – seit der Ankunft des Zuges ist eine knappe Stunde vergangen – werden die Flüchtlinge in Omnibussen zur Dienststelle in eine ehemalige Bundeswehrkaserne gebracht. In einer zum Bettenlager umfunktionierten Turnhalle können sie sich ein wenig ausruhen, bekommen zu trinken und zu essen. „Der Malteser Hilfsdienst unterstützt uns hier vorbildlich“, sagt Scharf.

 

Danach geht es in die „Bearbeitungsstraße“. So nennen die Beamten das Gebäude zur Registrierung der Flüchtlinge. „Hier ist ein ständiges Kommen und Gehen“, meint der Polizeisprecher. Während am Eingang Asylbewerber eintreten, verlassen andere den Ausgang mit der „Anlaufbescheinigung“ schon wieder.

 

Mit dem Papier können sie in die Münchner Erstaufnahmestelle weiterreisen und dort ihren Asylantrag stellen. Wer genug Geld hat, kauft sich die Fahrkarte selber, andernfalls zahlt der Staat das Ticket. Im Idealfall dauert die Registrierung zwei Stunden. Kommen die Flüchtlinge jedoch erst abends in die Kaserne, verbringen sie oft die ganze Nacht in der Turnhalle, ehe sie erfasst werden.

 

Registrieren heißt Durchsuchen, ärztliche Untersuchung auf ansteckende Krankheiten wie Tuberkulose, Krätze oder Keuchhusten, und es heißt erkennungsdienstliche Behandlung – Fingerabdruck und Foto. Die wenigsten der Flüchtlinge kommen mit einem Ausweis in Deutschland an. In vielen Fällen haben Schleuser sie ihnen zuvor abgenommen. „Die Leute erhalten durch die Registrierung eine Identität und können unabhängig von Schleusern ihren Asylantrag stellen“, verteidigt Scharf die aufwendige Prozedur.

 

Auf die Schleuser ist der Beamte nicht gut zu sprechen. Abgesehen von den oft lebensgefährlichen Schiffspassagen setzten die Banden die Flüchtlinge unter Druck und verängstigten sie. Allein in Bayern sitzen derzeit 515 mutmaßliche Schleuser in Untersuchungshaft, so viele wie nie zuvor. Wegen der Zunahme der Flüchtlingszahlen mussten die Zivilstreifen die Fahndung nach Schleusern auf den Straßen allerdings fast komplett einstellen.

 

Dennoch stehen in einer Halle der Ex-Kaserne Dutzende sichergestellte Schleuserfahrzeuge – lauter Rostlauben, in denen Flüchtlinge unter menschenunwürdigen Umständen über die Grenze gebracht wurden. Erst dieser Tage zog die Polizei einen Kastenwagen aus dem Verkehr, in den 31 Afghanen stehend eingepfercht waren. Bei der Fahrt auf der Autobahn Salzburg-München (A8) sprang plötzlich die Hecktüre auf, ums Haar wären einige der Flüchtlinge auf die Fahrbahn gestürzt.

 

Aynom Asmelash aus Eritrea will bei der Registrierung zunächst keinen Fingerabdruck geben. Mit Engelsgeduld redet der Beamte auf den skeptisch dreinblickenden jungen Mann ein. „You are in Germany, you must do it“, sagt er. Nach einer Weile willigt der Asylbewerber ein und legt die Fingerkuppe wenn auch skeptisch auf das Sichtgerät. Am Ende der „Bearbeitungsstraße“ wartet schon der Dolmetscher, der den Beamten bei der Befragung der Flüchtlinge ins Deutsche übersetzt, erst dann gibt es die „Anlaufbescheinigung“.

 

Viel ist bei der Vernehmung oft nicht aus ihnen herauszubringen. Der 20-jährige Dejen Tsegay aus Eritrea sagt, dass die Regierung in seinem Land „kriminell ist“ und er unbedingt in Deutschland bleiben wolle. Ruth Brhane (19) ist mit mehreren Cousinen und der Schwester ebenfalls aus Eritrea geflohen. „Keine Freiheit“ herrsche dort, es sei lebensgefährlich. Oft berichten die Flüchtlinge von hohen fünfstelligen Dollarbeträgen, die sie für die von Schleuserbanden organisierte Flucht zahlen mussten.

 

Der 37-jährige Michael – seinen Nachnamen will er nicht nennen – ist seit einem halben Jahr bei der Bundespolizei in Rosenheim und kommt regelmäßig mit Flüchtlingen zusammen. „Das Schwierigste ist, die Leute dazu zu bringen, aus dem Zug auszusteigen“, weiß der Beamte. „Erst wenn sie sicher sind, tatsächlich in Deutschland angekommen zu sein und hier einen Asylantrag stellen zu können, ist es unkompliziert.“ Beinahe täglich das Leid von Flüchtlingen zu erleben, ist für den Polizisten Routine geworden. „Ich kann ruhig schlafen.“

 

Doch bei noch so viel Bürokratie geht es in der „Bearbeitungsstraße“ zur Flüchtlingsregistrierung menschlich zu. Der zweijährige Ali aus Syrien darf sich vor der Weiterfahrt nach München aus einem Karton mit Stofftieren noch eines aussuchen. Aber er kann sich nicht entscheiden und greift sich die ganze Schachtel. Mit einem breiten Grinsen läuft der Knirps durch den Raum. Der Beamte, der ihm den Karton gereicht hat, nickt nur. Ali darf alle Spielsachen behalten.

 

 

rg / dpa

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