Di., 29.09.2015 , 11:18 Uhr

Der Fünfer-Looping auf der Wiesn: Die Geschichte eines Achterbahn-Pioniers

Wer dieser Tage über das Oktoberfest in München geht, sieht die Lebensleistung Werner Stengels an jeder Ecke. Der Ingenieur ist ein Pionier des Achterbahn-Baus. Er hat unter anderem den fünffachen «Olympia-Looping» entwickelt.

 

Graue Haare, rote Cordhose. Dazu ein Sakko mit Einstecktuch, auch rot. Auf den ersten Blick sieht Werner Stengel nicht unbedingt wie ein Grenzgänger aus. Kirmes-Plätze und Freizeitparks dieser Welt hätten ohne den 79-Jährigen allerdings ein anderes Gesicht. In seinem Fach – dem Ingenieurswesen – hat Stengel viele Grenzen verschoben und überwunden. Der Achterbahn-Looping von heute – ohne Stengel undenkbar. Ebenso wie das markerschütternde Kreischen vieler Fahrgäste. Nicht nur optisch, auch akustisch prägt Stengels Werk die Volksfeste dieser Welt.

 

 

Gerade jetzt zur Münchner Wiesn kann man seine Arbeit wieder im Dutzend bestaunen. Der «Olympia-Looping», die größte transportable Achterbahn der Welt; die «Wilde Maus», bei der der Eindruck entsteht, der Wagen würde aus den Kurven getragen; die «Alpina-Bahn», die weltweit längste transportable Achterbahn ohne Looping – Stengels Entwicklungen waren innovativ und stilprägend für das Achterbahn-Wesen. An fast 700 Achterbahnen waren er und sein Team «ingenieursmäßig beteiligt». Im Büro im Münchner Süden, das sein Schwiegersohn mittlerweile zusammen mit einem Partner leitet, tüfteln 13 Ingenieure an den Fahrgeschäften von morgen. Er selbst habe sich mittlerweile aus dem «operativen Geschäft» zurückgezogen, sagt Stengel.

 

 

Größer, steiler, schneller

 

Mehr als 50 Jahre ist es her, dass Stengel die Achterbahn-Welt revolutioniert. 1963 jobbt der gebürtige Bochumer in einem Münchner Ingenieurbüro, als er Anton Schwarzkopf, einen Produzenten von Schausteller-Anlagen, kennenlernt. Für einen Kunden entwirft Stengel erst einen Auto-Scooter, dann die «Super Acht», die erste deutsche Stahl-Achterbahn. Zehn Jahre später folgt der Looping, wie man ihn heute kennt. Was Stengel damals schon weiß: Die Menschen haben künftig mehr Freizeit, verreisen häufiger und Freizeitparks setzen sich durch.

 

Seither werden die Achterbahnen – «fliegende Bauten», wie sie in deutschen Amtsstuben heißen – immer größer, immer steiler, immer schneller. Bis zu sechs g – also das Sechsfache des eigenen Körpergewichts, dürfen heute auf die Fahrgäste wirken. Werte übrigens, die Stengel als Mitglied verschiedener Normausschüsse selbst festgelegt hat.

 

 

Stengel ist ein Pionier

 

Stengel werden im Laufe der Jahre etliche Spitznamen zuteil: «Herr der Fliehkräfte» und «Pate des organisierten Erbrechens», «Rollercoaster-Guru» und «Rollercoaster-Papst». Sein Name ist ein schillernder Begriff, 2005 wird er zum Ehrendoktor der Universität Göteborg ernannt, 2009 erhält er das Bundesverdienstkreuz am Bande.

 

«Stengel ist ein Pionier. Er hat maßgeblich geprägt, was heute möglich ist», sagt einer, der es wissen muss. Marco Fiege ist Gründer der «Coaster Junkies Germany», Achterbahnen sind seine Leidenschaft. Für ihn liegt Stengels größte Leistung in seiner Ruhelosigkeit: «Er war innovativ und hat seinen Stil immer wieder verändert.»

 

Keine Entwicklung ohne Stengel

 

«Wegweisend» nennt Jürgen Wild Stengels Arbeit. «Ohne ihn hätte es die Entwicklung der Achterbahnen so nicht gegeben», sagt der Geschäftsführer des Bayerischen Landesverbands der Marktleute und Schausteller.

 

Entscheidend für Jubelarien dieser Art sind drei Erfindungen: der Gebrauch der Klothoiden-Kurve beim Looping, die sogenannte Herzlinie und die Raumkurve. All diese Ideen haben das Achterbahnfahren ungefährlicher und vielseitiger gemacht. Stengel hat neue Fahrfiguren ermöglicht und mit seinem Looping dafür gesorgt, dass im Anschluss an die Fahrt kein gebrochenes Schlüsselbein steht. Dazu hat er den Looping nicht in einer reinen Kreisform, sondern mit behutsameren Übergängen bei der Ein- und Ausfahrt konstruiert.

 

 

Noch mit 80 steigt er ein

 

Er selbst formuliert nach Jahrzehnten im Geschäft, nachdem immer wieder neue Grenzen verschoben wurden und der «Kingda Ka» in New Jersey (USA) in dreieinhalb Sekunden auf mehr als 200 Kilometer pro Stunde beschleunigt, eine überraschende These: «Geschwindigkeit ist gar nichts.» Eine gute Achterbahn zeichne sich viel mehr durch das «Aneinanderreihen der Beschleunigung und Änderung der Beschleunigung» aus. Soll heißen: Die Abwechslung zwischen schnell und langsam in Kombination mit dem Reiz des Unbekannten ist entscheidend.

 

Mit fast 80 Jahren steigt Stengel auch heute noch regelmäßig in die Achterbahn. «Sonst wüsste ich nicht, was Achterbahn-Freaks sich wünschen.» Heuer fährt übrigens erstmals Stengels zehn Jahre alter Enkel mit. Früh übt sich.

 

 

mk/dpa

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