Mo, 04.06.2018 , 11:58 Uhr

Auferstanden aus der Flut - Fischerdorf und das Jahrhunderthochwasser

Als bei Deggendorf im Juni 2013 nach tagelangem Regen der Isardamm bricht, ist die Katastrophe nicht mehr zu verhindern: Der Ortsteil Fischerdorf geht buchstäblich unter. Fünf Jahre später zeigt sich, wie die Jahrhundertflut den Ort und seine Menschen verändert hat.

 

Hochwasser und Schlamm sind längst weg. Die Spuren der Jahrhundertflut in der niederbayerischen Stadt Deggendorf scheinen beseitigt. Und doch erinnert im Ortsteil Fischerdorf alles an die Tage im Juni 2013, als der Damm an der Isar brach und das durch tagelangen Regen aufgestaute Wasser freien Lauf hatte. Es flutete Straßen, Häuser und die Autobahn – bis zu vier Meter hoch. Eine gewaltige Katastrophe, bei der es auf wundersame Weise keine Toten gab.

 

Fünf Jahre später gibt es in dem Ort Neubauten anstelle zerstörter Häuser. Stehengebliebene Gebäude sind frisch gestrichen, Straßen weitgehend repariert, Spiel- und Fußballplatz erneuert. Fischerdorf ist auferstanden – der gleiche Ort und dennoch ein anderer.

 

Eines der neuen Häuser gehört Rosalie und Joseph Straßer

 

Modern und hell ist es, eine Küche wie aus einem Möbelprospekt. Ein Jahr nach der Flut sind die Straßers eingezogen. Mit Heizöl verschmutztes Hochwasser hatte das alte Haus unbewohnbar gemacht. Es wurde abgerissen. Auf ihrem Grundstück durften sie wegen der Nähe zur Isar nicht neu bauen und bekamen von der Stadt ein Ausgleichsgrundstück etwas weiter im Ortsinneren.

 

Ob sie sich hier heimisch fühlen? Nun, in dem alten Haus sei er 1951 geboren worden, sagt Straßer. Er sei dort aufgewachsen und habe immer dort gelebt. Etwas abgelegen sei es gewesen. «Idyllisch.» Trotz der Autobahn, die nebenan gebaut wurde und trotz des Lärms, den diese mit sich brachte. Rund um das neue Grundstück ist inzwischen viel gebaut worden. Spielplatz, Moschee, Kindergarten – ständiger Trubel. «Da hinten hatten wir unsere Ruhe», sagt er und deutet in Richtung Isar.

 

Ein noch so schönes neues Haus ist eben nicht gleich ein Zuhause – zumal wenn Erinnerungsstücke fehlen. Das ist spürbar, wenn die Straßers erzählen. «Wir sind ja zufrieden hier», sagt die 65-Jährige. Aber: «Es ist eben nicht die Heimat.» Sie schluckt. Ihre früheren Nachbarn, Rosemarie und Dietmar Seidel, hätten es richtig gemacht, sagt Josef Straßer. Die hätten durchgesetzt, dass sie auf dem selben Grundstück ihr Haus neu bauen durften. Er bereut, selbst nicht mehr darum gekämpft zu haben. «Wir haben die Kraft nicht gehabt.»

 

Viele schreckliche Erinnerungen kommen bei den Bürgern von Fischerdorf bei dem Gedanken an das Jahr 2013 auf

 

Auch das Haus der Seidels war in der Jahrhundertflut untergegangen. In einem Ordner haben sie Zeitungsartikel darüber gesammelt, eine Luftaufnahme ihres überschwemmten Grundstückes ging um die Welt. Das Haus ließen sie wieder so aufbauen, wie es vorher war. Sie sind froh, dass sie bleiben konnten – trotz bürokratischer Hürden. Beim Rundgang durch den Garten zeigen sie, wie hoch das Wasser stand. An der Hecke sind noch Schäden sichtbar. «Furchtbar war das. Furchtbar», sagt sie.

 

Geblieben ist dem Paar so gut wie nichts. Das ölige Wasser hat alles zerstört. Lediglich die Fotos, die im Obergeschoss an der Wand hingen, konnten die Seidels retten. Den Straßers geht es ähnlich. Die alten Alben mit den schönen Erinnerungsfotos sind kaputt. Stattdessen liegt nun auf ihrem Esstisch ein Fotoalbum mit Bildern ihres verwüsteten Zuhauses. Wenn das Paar vom 4. Juni 2013 erzählt, klingt es, als wäre das gestern gewesen.

 

Josef Straßer hat als Feuerwehrkommandant immer wieder Hochwasser erlebt

 

«Wie oft haben wir Dammwache geschoben», sagt er. Fischerdorf liegt zwischen Donau und Isar. Die Menschen waren an Überschwemmungen gewöhnt. «Oft haben wir das Hinterland ausgepumpt, damit den Leuten das Wasser nicht in die Keller läuft.» Aber dass es einmal so kommen würde, das habe sich niemand vorstellen können.

 

Die Anwohner seien an jenem 4. Juni aufgefordert worden, ihre Häuser zu verlassen, erinnern sich die Straßers. Die heute 65-Jährige trug wichtige Dokumente in den ersten Stock und legte sie auf einen Tisch – nicht ahnend, dass sogar der noch untergehen würde. Sie verließ Fischerdorf, während ihr Mann noch das Haus abzudichten versuchte. Dann kam das Wasser. «Ich habe es gerade noch ins Auto geschafft», sagt er. «Ich wusste: Hier kann ich nichts mehr tun.»

 

Er fuhr zu Tochter und Schwiegersohn, deren Haus etwas höher lag. Die beiden Männer versuchten auch hier alles dicht zu bekommen. «Wir haben bis zum Schluss gekämpft.» Während Straßer spricht, klingt die ganze Verzweiflung von damals durch. Als dann das Wasser in den ersten Stock vorgedrungen sei, habe der Schwiegersohn gesagt: «Lass‘ es kommen» und das Haus aufgegeben. Retter hätten sie mit einem Boot abgeholt. Im Fernsehen sah er später das Ausmaß der Katastrophe.

 

Wiederaufbau, Versicherungszahlungen und Konkurrenzkampf

 

Und heute? «Verdrängen kann man das nicht», sagt Straßer. «Das war einfach zu viel.» Der ganze Ort habe sich verändert, ergänzt seine Frau. Neid habe es gegeben angesichts der Versicherungszahlungen und Spenden. Die Leute hätten sich beäugt, wer nun wie groß baut. «Das war ein bissl ein Konkurrenzkampf. Man hat ja nichts anderes mehr gehört als: „Welchen Maler hast du?“, „Welche Fliesen nimmst du?“.»

 

Das berichten auch andere Fischerdorfer, die Seidels oder die Weinbergers. Auch bei ihnen werden Erinnerungen an die Katastrophe sofort lebendig, wenn sie erzählen. Betty und Ludwig Weinberger mussten ihr Haus nicht abreißen lassen. Sie haben es renoviert. Erst wenige Jahre zuvor war das Paar in das Elternhaus von Ludwig Weinberger eingezogen und hatte es herrichten lassen. Neues Dach, neue Türen, neue Böden, frischer Anstrich.

 

Dann kam die Flut, eine Flut ungeahnten Ausmaßes: «Ich habe noch Sandsäcke vor die Türen gelegt», erinnert sich Weinberger und fasst sich an die Stirn. Ein paar Sandsäcke – lächerlich. «Die Arbeit hätte ich mir schenken können.» Er habe seine sechs Schafe auf einen Anhänger gepackt und sei gerade noch rechtzeitig davon. «Die Schafe standen auf dem Hänger schon im Wasser.» Den Wecker, der stehen blieb, als die Flut kam, hat er aufgehoben. «Den gebe ich nicht aus der Hand.» Bis heute zeigt der Wecker kurz vor halb zwei.

 

Zerstörte Häuser wurden erneuert, was blieb sind viele Erinnerungen an die Katastrophe

 

Im Ort gebe es eine Gruppe, die sich regelmäßig trifft, um über das Erlebte zu sprechen, berichtet Weinberger. Für ihn wäre das nichts. «Ich will nichts mehr davon hören.» Lieber nach vorne schauen. «Es ist nicht mehr das gleiche Dorf wie vorher», sagt Betty Weinberger. «Alle sind neidisch aufeinander.» Materiell stehe sicher niemand schlechter da als vorher. Im Gegenteil, etliche hätten profitiert, sagt sie angesichts der vielen Neubauten.

 

Versicherungsgelder, Spenden und Fördermittel sind weitgehend schnell und unbürokratisch geflossen, sagen die drei Paare unisono. Die Hilfe sei enorm gewesen. «Wir waren drei Wochen nach dem Hochwasser die letzten, die wieder in ihr altes Haus durften», sagt Rosalie Straßer. «Da dachte ich mir: Die Helfer sind ja längst weg. Was machen wir jetzt?» Dann habe die Bundespolizei einen Trupp geschickt, gut ein Dutzend Mann – und binnen Stunden sei das Haus ausgeräumt gewesen.

 

Diese Erfahrung hat auch Franz Heigl gemacht, der damals Vorsitzender des Reitclubs war. Die Reitanlage hatte evakuiert werden müssen. 60 Pferde fanden Unterschlupf in Ställen in umliegenden Gemeinden. Als das Wasser abgelaufen war und es ans Aufräumen ging, sei die Hilfe enorm gewesen. «Das war der Wahnsinn. Sensationell», sagt er. Das gelte auch für den finanziellen Ausgleich: «Das lief unbürokratisch und war total in Ordnung.»

 

In der Reithalle zeigt Heigl an der Holzvertäfelung eine dunkle Linie in etwa zwei Metern Höhe. Bis da stand das Wasser. Überschwemmungen habe es immer mal wieder gegeben, sagt er. «Aber so was – das war unvorstellbar.» Sorgen mache er sich nicht, dass sich die Katastrophe wiederholen könnte. «Nach der Dammsanierung habe ich keine Angst.»

 

Angst vor einer erneuten Flut hat in Fischerdorf keiner

 

Angst scheinen die wenigsten Fischerdorfer zu haben. Der Ortsteil boomt. Gut 170 Hausbesitzer hatten einen Antrag auf Neubau nach Abbruch ihres alten Haues gestellt, berichtet eine Sprecherin der Stadt. Von den Hochwasseropfern zogen nur wenige weg und einige Neu-Fischerdorfer kamen dazu.

 

Die Erweiterung des Hochwasserschutzes soll im kommenden Jahr weitgehend abgeschlossen sein, wie Michael Kühberger, der Leiter des Wasserwirtschaftsamtes, mitteilt. Rund 70 Millionen Euro seien in dem Gebiet dafür ausgegeben worden. Der Damm wurde erhöht und soll nun einem hundertjährlichen Hochwasser standhalten. HW100-sicher, wie es im Fachjargon heißt. Zudem wurden Rückhalteflächen geschaffen.

 

Fünf Jahre nach der Flut sei auch der Wiederaufbau von Fischerdorf weitgehend beendet, sagt Oberbürgermeister Christian Moser (CSU). Einige Straßen müssten noch saniert werden. Gerade bei Familien sei das Interesse an Bauplätzen groß: «Momentan können wir dort keine Baugrundstücke anbieten.» Dass es Neid unter Nachbarn gab, ist auch dem Rathaus-Chef nicht verborgen geblieben. Für ihn steht aber der Zusammenhalt im Fokus, wie sich die Menschen damals gegenseitig geholfen haben. Und auch, wie sich der Ort entwickelt hat. So hätten sich Vereine in einem neuen gemeinsamen Vereinsheim zusammengetan.

 

Fischerdorf hat sich erneuert, ist moderner und städtischer geworden. Rosalie Straßer bringt es auf den Punkt: «Vorher war das hier ein Dorf. Jetzt ist es ein Stadtteil.» Und das kann man gut oder schlecht finden.

dpa

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